Enge Platzverhältnisse und harte Arbeit waren in Armenverpflegungsanstalten an der Tagesordnung
Das Wohn- und Pflegeheim Utzigen feiert dieses Jahr mit Stolz und Freude sein 150-jähriges Bestehen. Gleichzeitig wird bewusst auch der Blick zurück gemacht in eine Epoche, in der Menschen unter teils prekären Bedingungen administrativ versorgt wurden.
Mit Jubiläumsfeierlichkeiten, einem Suchtrail und einem Sommerfest wird dieses Jahr im Schloss Utzigen eingehend gefeiert. Der heute grösste Arbeitgeber der Gemeinde Vechigen ist nicht einfach eine Pflegeinstitution, sondern mit seinen 204 Einzelzimmern ein Wohn- und Wohlfühlort für Menschen, die in ihrem Alltag alters- oder krankheitsbedingt auf Unterstützung angewiesen sind. Der Gründungsgedanke vor 150 Jahren war jedoch weit weniger human.
Stumme Zeitzeugen
Mit der Sonderausstellung «Stumme Zeitzeugen» soll den damaligen Bewohnenden bewusst eine Stimme gegeben werden. Für Geschäftsführer Thomas Stettler gehen Feiern und Reflektieren beim Jubiläum Hand in Hand. Er betont: «Wir wollen mit Stolz unseren hochmodernen Betrieb feiern und zugleich die komplexe Vergangenheit des Schweizer Anstaltswesens ins Bewusstsein rücken. So schaffen wir Raum für den Dialog über Werte, Menschenwürde und soziale Verantwortung.»
Gründung der Anstalt
Die sonnige Lage, fruchtbare Felder und Zugang zu Holz und Wasser machten das 1670 erbaute Schlossgut mit Landwirtschaftsbetrieb für eine Kommission von Gemeinden aus dem Berner Oberland zu einer interessanten Liegenschaft. So kam es, dass der damalige Besitzer Carl Niklaus Friedrich von Daxelhofer am 17. März 1875 das Anwesen an die Herren aus dem Oberland verkaufte. Damit war die Oberländische Armenverpflegungsanstalt gegründet.
Zeitweise lebten bis zu 500 Personen auf engstem Raum auf dem Gut. Davon waren über die Hälfte körperlich oder geistig beeinträchtigt. Die übrigen Internierten waren alkoholsüchtig, kleinkriminell, gewalttätig oder anderweitig arbeitsunfähig und nur rund 7% waren alt oder arm. So unterschiedlich diese Menschen waren, alle hatten eine Gemeinsamkeit: niemand von ihnen war freiwillig in Utzigen.
«Quasi nach dem Motto «aus den Augen aus dem Sinn» wurden die Unglücklichen aus ihrer Gemeinschaft entfernt.»
Entwurzelt
Armenanstalten wurden mit Absicht abgeschieden und in Distanz zu den Ursprungsgemeinden geführt. Dies erschwerte es den zwangsplatzierten Frauen und Männern, zurück nach Hause zu flüchten und auch für Besuche war der Weg zu weit. Quasi nach dem Motto «aus den Augen aus dem Sinn» wurden die Unglücklichen aus ihrer Gemeinschaft entfernt. So gründeten 1876 Gemeinden im Berner Seeland analog
als Armenverpflegungsanstalt das heutige Alters- und Pflegeheim Seelandheim in Worben und 1890 erwarb die Stadt Bern für ihre Menschen am Rande der Gesellschaft das Landgut in Kühlewil ob Kehrsatz.
Ein harter Ort
Das Leben in der Armenverpflegungsanstalt war geprägt von Arbeit, denn die hier internierten Frauen und Männer hatten einen Landwirtschaftsbetrieb zu stemmen. Individualität und Körperpflege waren Mangelware. Die Liste eines Inspektors, der
im Jahr 1906 Verbesserungsvorschläge unterbreitete, lässt die damals vorherrschenden Bedingungen erahnen. So forderte er kleine Schlafräume anstelle von Schlafsälen, beheizbare Räume im Winter, das Wechseln von Kleidung einmal pro Woche und die Möglichkeit, einmal pro Monat zu baden. Diese Ideen trafen jedoch auf taube Ohren.
«Im Gegensatz zu den Anfangszeiten stehen heute der Mensch und seine Würde im Zentrum – eine Errungenschaft, die hochgehalten und gefeiert werden darf!»
Wertewandel
Erst nach und nach verbesserten sich die Bedingungen. In den 1930er Jahren wurden je ein Frauen- und ein Männergebäude mit kleineren Schlafräumen gebaut, ein Cinematograph und eine Radioanlage wurden angeschafft und erstmals gab es Taschengeld, mit dem die Bewohnenden am Kiosk Zigaretten oder Süssigkeiten kaufen konnten. 1948 wurde das betriebsinterne Spitäli eröffnet, welches eine bessere medizinische Versorgung der Pfleglinge gewährleistete. Ab den 1970er Jahren wurden die Bewohnenden schliesslich nicht mehr als Arbeitskräfte, sondern als Menschen mit individuellen Bedürfnissen wahrgenommen.
Grund zum Feiern
Dank den veränderten gesellschaftlichen Normen und Werten wurden Therapie und Pflege stetig verbessert und die Infrastruktur zum heutigen modernen Pflegebetrieb erweitert. Im Gegensatz zu den Anfangszeiten stehen nun 150 Jahre nach der Gründung der Mensch und seine Würde im Zentrum – eine Errungenschaft, zu welcher es Sorge zu tragen gilt und die definitiv hochgehalten und gefeiert werden darf!
Corinne Fischer
Infobox
Die Ausstellung «Stumme Zeitzeugen» im Wohn- und Pflegeheim Utzigen ist täglich von 9 bis 16 Uhr geöffnet.